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Wir sind hauptverantwortlich für die Tarifkalkulation der Krankenversicherungsprodukte und entscheiden über die Preisfestsetzung in einem umkämpften Markt. Gesetzlich sind wir verpflichtet, jährlich die Beitragskalkulation unserer Produkte zu prüfen und gegebenenfalls an geänderte Rahmenbedingungen (zum Beispiel medizinische Inflation) anzupassen. Für die Nachkalkulationen der Tarife mussten wir jedes Jahr alleine etwa 5.000 Seiten mit Datentabellen in Word erstellen. Den Wunsch des Managements nach einer frühzeitigen Prognose über die Auswirkungen der Beitragsanpassungen konnten wir damit nicht so schnell erfüllen, wie wir das gerne wollten.
Es sollte sich etwas ändern. Meine Vision einer neuen Prozesslandschaft war der Auftakt für unser selbstinitiiertes Projekt „Tarifkalkulation 2.0“, für das sich zehn Mathematiker Kollegen und Kolleginnen mit einem Faible für IT zusammenfanden. Unser Ziel war es, innerhalb eines Jahres eine Architektur zu implementieren, die eine weitgehende Automatisierung der bisher manuell durchgeführten Prozessschritte ermöglicht, bei denen kein menschliches Entscheidungsvermögen benötigt wird. Und das zusätzlich zu unseren täglichen Aufgaben.
Die Prozesslandschaft und unsere Kalkulationstools waren über viele Jahre historisch gewachsen. Wir standen deshalb vor der großen Frage, wie radikal unsere Umstellung sein sollte. Wagen wir einen kompletten Umstieg auf Java oder stellen wir trotz eines sehr hohen Aufwands von Word auf Latex um? Wir haben uns für ein Modell entschieden, mit dem wir die Stärken unserer bisherigen Kalkulationswerkzeuge weiternutzen konnten – wie etwa die hohe Flexibilität und Nutzerfreundlichkeit von Excel und Word – und haben gleichzeitig dort Ergänzungen vorgenommen, wo unsere Prozesse bisher fehleranfällig und langsam waren.
Der erste wichtige Schritt dazu war der Aufbau einer zentralen Datenbank (das sogenannte Control Center), in der alle relevanten Kalkulationswerte frühzeitig und standardisiert gespeichert werden können. Dazu wurden die dezentralen Kalkulations-Excels um eine Upload-Funktion in die Datenbank ergänzt, sodass daraus jederzeit aktuelle Werte in die Datenbank hochgeladen werden können. Alle weiteren Tools und auch wir können via SQL aus den verschiedenen von uns genutzten Programmiersprachen (VBA, Java, R, Python, SAS) auf die Werte zugreifen.
Ein SAS-Programm, das unsere Kundenbestandsdaten mit den neuen Kalkulationswerten aus dem Control Center verknüpft, ermöglicht uns, frühzeitig abzuschätzen, wie sich die Beitragseinnahmen entwickeln. Die Zeitersparnis ist enorm. Zusätzlich haben wir die Kontrollaufgaben verschlankt, indem wir einen zweiten Rechenkern in Java implementierten. Der rechnet beim Daten-Upload in das Control Center die Kalkulation unabhängig nach und zeigt uns Unstimmigkeiten an. Für uns Mitarbeiter:innen bleiben dabei wenige Schritte mit Freiheitsgraden zur Kontrolle übrig, da ein Großteil der Kalkulationsschritte festen Formeln folgt und der Computer diese problemlos validiert.
Unser zweites Augenmerk galt dem fehleranfälligen und damit aufwendigen Copy & Paste im Rahmen der Tarifnachkalkulationen, die pro Vorgang bis zu 100 Din-A4-Seiten umfasste. Auch hierfür schrieben wir ein Java-Programm, das in sämtlichen Dokumenten die Daten aktualisiert. Wofür ein Kollege/eine Kollegin früher locker mal einen halben Tag benötigte, braucht das Programm heute gerade mal ein bis zwei Minuten.
Bei der Umsetzung all dieser Neuerungen waren vielfältige IT-Kenntnisse erforderlich. Unter anderem haben wir eine Datenbankstruktur konzipiert, zahlreiche SQL-Abfragen geschrieben, Excel mit VBA-Code zum Ausführen von Java-Programmen erweitert, Datenbankverbindungen in Excel hinzugefügt und in Java objektorientiert programmiert. Durch interne Weiterbildungsangebote haben wir unser IT-Wissen ausgebaut und Best-Practice-Lösungen miteinander geteilt. So konnten wir eine passgenaue Anwendung für unsere Bedürfnisse entwickeln und das spannende Zusammenspiel von Mathematik und Technik selbst gestalten.
Die Transformation unserer Prozesskette über ein Jahr hinweg war für uns alle eine bereichernde und spannende Herausforderung und die Erfolge übertreffen bei weitem unsere Erwartungen. Die gewonnene Zeit können wir jetzt unter anderem in die interdisziplinäre Entwicklung neuer Produkte mit agilen Methoden investieren oder für die tiefergehende Analyse von Trends in unseren Daten nutzen. Unsere neue Systemarchitektur ermöglicht darüber hinaus eine deutlich präzisere Planung von Unternehmenskennzahlen und lässt bereits früh im Jahr Prognosen zu.